Die Illusionen Israels

Dezember 2025.

Es gibt eine Waffenruhe, die keiner spürt.
Ein Papier, das niemandem Frieden bringt.
Eine Stille, die nicht heilt, sondern lähmt.

Die Welt hat kurz den Kopf gehoben –
ein müdes Nicken, ein erleichterter Seufzer,
„endlich weniger Nachrichten“,
und dann hat sie sich wieder abgewandt.

Doch unter der Oberfläche ist nichts still.
Gaza liegt weiterhin in Schutt,
das Westjordanland blutet,
Palästina atmet mit dem Stiefel am Hals.

Und Israel?
Israel wirkt wie ein Staat, der glaubt, das Drehbuch ließe sich weiterschreiben,
obwohl die Bühne längst marode ist.

Es gibt Momente in der Geschichte,
in denen ein Land voranstürmt –
obwohl der Boden unter seinen Füßen bereits verschwunden ist.

Genau diesen Moment erleben wir jetzt.

Es ist der Moment,
in dem die Illusionen sichtbar werden.

Die Art von Illusionen, durch die schon allen Regimen in der Phase ihres Niedergangs die Sicht vernebelt war: Kontrolle zu haben und ewig zu sein.

🧭 Worum es hier geht
Eine Analyse der zentralen Illusionen, durch die Israels politisches System sich selbst stabilisiert: Kontrolle, Image, moralische Immunität und Zeit.
Der Text beleuchtet die Mechaniken, die sowohl Staaten kolonialer Macht als auch autoritäre Regime im Spätstadium glauben lässt, unantastbar zu sein – und zeigt, warum sich genau an diesem Punkt die Wende abzeichnet.

Kategorie: Welt & Verantwortung
Schlüsselthemen: Illusionen · Machtstrukturen · Kolonialismus · Autoritarismus · Kontrolle · Moralische Immunität · Israel · Palästina · Geschichte · Narrativmacht
These: Politische Systeme scheitern nicht an Gegnern, sondern an ihren eigenen Illusionen.
Lesedauer: ca. 10 Min.

Dieser Artikel ist Teil meines Gaza–Israel-Dossiers.
Er erweitert den Blick um jene Illusionen, die sowohl koloniale Projekte als auch autoritäre Regime im späten Stadium prägen – die Selbsttäuschungen, die ihnen letztlich den Boden entziehen.


🜃 1. Die Illusion der Kontrolle

(Auch: Illusion der Macht über Realität)

Vielleicht ist dies Israels tiefste Selbsttäuschung:
der Glaube, Realität sei formbar wie Ton.
Ein Projekt, das man verwaltet, steuert, dominiert.

Doch Kontrolle ist die zerbrechlichste aller politischen Konstruktionen.

Israel verliert die Kontrolle schneller, als es merkt:

  • über das Westjordanland, das längst ein Pulverfass ist
  • über Gaza, das sich nicht besetzen, nur ruinieren lässt
  • über das eigene Narrativ, das nicht mehr greift
  • über Palästinenser:innen, deren Resilienz unzerstörbar ist
  • über internationale Allianzen, die ächzen und kippen
  • über das moralische Fundament, das aufhört zu tragen.

Kontrolle ist nicht langlebig.
Nicht historisch.
Nicht menschlich.
Wider das Leben selbst.

Kontrolle ist ein kurzer Zustand zwischen zwei Realitäten.

Und Kolonialprojekte scheitern immer daran
zu glauben, Realität unterwerfen zu können.

„Kontrolle ist Israels größte Illusion.
Und Illusionen haben noch nie Zukunft gebaut.“


🜄 2. Die Illusion des reparierbaren Images

(Auch: Illusion der Deutungshoheit)

Israel glaubt, sein Image sei eine Marketingfrage.
Ein Brandingproblem.
Etwas, das man mit PR-Budgets, Image-Videos, Influencer-Reisen und Hasbara (hebr. „Erklärung“; staatlich organisierte Öffentlichkeitsarbeit/Propaganda Israels) vermeintlich glattbügeln kann.

Doch das 20. Jahrhundert ist vorbei.
Narrative werden nicht mehr kreiiert und fixiert.
Sie formen und verändern sich.

Und die Welt hat die Bilder aus Gaza gesehen.
Millionenfach.
Unauslöschlich.

Eine Generation, die ungeschnittene Livestreams gesehen hat,
glaubt keine PR-Märchen mehr.

Israel kämpft gegen eine Kraft, die nicht besiegbar ist:
Zeugenschaft.

Moralische Glaubwürdigkeit ist kein Social-Media-Asset.
Sie ist entweder vorhanden – oder verloren.

Und Israel hat sie verloren.

Nicht aufgrund der Propaganda seiner Gegner.
Sondern wegen seiner eigenen Handlungen.

Ein Staat kann vieles reparieren.
Aber niemals den Moment, in dem die Welt ihn moralisch durchschaut.


🜅 3. Die Illusion der moralischen Immunität

(Auch: Die Illusion, jenseits von Schuld zu stehen)

Es gibt eine Illusion, die tiefer greift als Kontrolle, tiefer als Image, tiefer als jede politische Strategie:
die Illusion, moralisch unantastbar zu sein.

Israel lebt seit seiner Gründung mit einem Selbstbild, das auf historischem Trauma ruht – einem Trauma, das real ist, unermesslich und unauslöschbar.
Doch aus diesem Trauma hat sich über Jahrzehnte ein gefährlicher Schluss gebildet:

„Weil wir Opfer waren, können wir keine Täter sein.“

Das ist die Illusion der moralischen Immunität.

Moralische Immunität als Schutzschild

Eine Illusion, die funktioniert wie ein Schutzschild –
unantastbar, unhinterfragbar, sakral aufgeladen.
Ein psychologischer Reflex, der jede Kritik abwehrt,
noch bevor sie ausgesprochen ist.

Was diese Illusion nährt:

  • die Opferrolle als Identität, nicht als historische Erfahrung
  • die ständige Wiederholung der eigenen Verwundbarkeit
  • das Einfrieren der Shoah als politischer Garantieschein
  • die jahrzehntelange Rückendeckung durch westliche Staaten
  • das Narrativ, die einzige legitime Zuflucht eines verfolgten Volkes zu sein

Aus dieser Mischung entsteht eine Überzeugung, die politisch tödlich ist:

„Wir handeln nicht falsch.
Wir handeln aus Notwendigkeit“

Moralische Immunität als Rechtfertigung

Moralische Immunität bedeutet:

  • Gewalt wird als Selbstverteidigung getarnt, auch wenn sie Angriff ist
  • Unterdrückung wird als Schutzmaßnahme umgedeutet
  • Kritik wird als Verrat geframed
  • internationale Regeln gelten als optional
  • Palästinensische Leben zählen weniger, weil sie nicht in das ethno-religiöse Selbstbild passen
  • das eigene Trauma legitimiert die eigene Brutalität

Die geopolitische Illusion („der Westen wird uns retten“) ist keine eigene Illusion –
sie ist ein Symptom der moralischen Immunität.

Denn wer sich für unantastbar hält,
geht selbstverständlich davon aus,
immer aufgefangen zu werden.

Und aus dieser Immunität entsteht eine paradoxe Haltung:
Je mehr die Welt erkennt, desto stärker klammert sich Israel an die Illusion, unfehlbar zu sein.

Doch die Wirklichkeit erzählt inzwischen eine andere Geschichte:

  • Die Generationen wechseln.
  • Die moralische Immunität bröckelt.
  • Die Opferrolle greift nicht mehr als Erklärung für koloniale Gewalt.
  • Die Welt liest Israel nicht mehr ausschließlich durch die Shoah,
    sondern zunehmend durch Gaza.

Moralische Immunität ist keine moralische Realität.
Sie ist ein psychologisches Konstrukt –
und psychologische Konstrukte sind instabil.

Das Haus der vier Illusionen

In der moralischen Immunität verbinden sich die vier Illusionen

Auf dem Fundament der Kontrolle
steht die moralische Immunität als tragende Balken,
ummántelt von der Fassade der Imagekontrolle
unter dem Dach der Zeit.

Das perfekte Haus der vier Illusionen:

  • Man glaubt moralisch über allem zu stehen.
  • Man glaubt, das Image sei reparierbar, weil man glaubt, moralisch nicht fallen zu können.
  • Man glaubt an Kontrolle, weil man davon ausgeht, dass die Welt die eigenen Motive niemals ernsthaft infrage stellen wird.
  • Man glaubt an die Zeit, weil man überzeugt ist, dass die Geschichte auf „der eigenen Seite“ steht.

🜂 4. Die Illusion des Aussitzens

(Auch: Illusion der Zeit)

Israel glaubt, Zeit sei ein politischer Rohstoff.
Etwas, das man lagern, dehnen, manipulieren kann.
Ein Werkzeug, das Druck mindert, Kritik verwässert, Schuldgefühle dämpft.

Doch Zeit ist kein Verbündeter.
Sie ist der größte Zeuge.

Was Israel übersieht:

  • Zeit heilt nicht, wenn man weiter verletzt.
  • Zeit beruhigt nicht, wenn man jeden Tag neue Wunden schlägt.
  • Zeit schützt nicht, wenn die Welt inzwischen digital erinnert.

Die Generation von 2025 ist nicht mehr die Generation von CNN und BBC.
Sie ist die Generation von TikTok, Livestreams, Archiven ohne Löschung.
Sie ist die Generation, die sich nicht ablenken lässt – sie speichert.

Aussitzen funktioniert nur in einer Welt ohne Bilder –
und ohne kollektive Augenzeugen.
Diese Welt existiert nicht mehr.

Kolonialreiche sind immer an dieser Illusion gescheitert:

„Wir warten. Wir sitzen das aus. Wir sind ewig. –
Irgendwann geben sie auf.“

Doch auf Unterdrückung basierende Systeme
sind instabil.
Und: Menschen geben nicht auf,
wenn es um ihre Heimat geht,
ihr Land,
ihre Würde.

Sie haben die tieferen Wurzeln.
Und den längeren Atem.


🜁 Historische Parallelen – Strukturen, keine Gleichsetzungen

Es gibt Muster, die sich durch Jahrhunderte ziehen.
Nicht, weil Geschichte sich wiederholt –
sondern weil sich menschliche Entwicklungen wiederholen.

Israel ist nicht Nazi-Deutschland.
Nicht Südafrika.
Nicht Algerien.
Nicht das British Empire.

Aber die Mechaniken sind bekannt:

  • Selbstüberschätzung
  • Kontrollwahn
  • Propaganda, die immer lauter wird, je weniger sie wirkt
  • moralische Erschöpfung
  • internationale Isolation
  • wirtschaftliches Wanken
  • der Glaube, man ist die Ausnahme

Der deutsche Nationalsozialismus glaubte bis April 1945, er könne noch verhandeln.
Frankreich glaubte, Algerien gehöre „für immer“ dazu.
Südafrika glaubte, Apartheid sei nachhaltig.
Die Briten glaubten, ihr Empire würde die Moderne überleben.

Alle irrten sich.

Das Muster ist nicht politisch.
Es ist anthropologisch.

Es geht nicht um Ideologien,
sondern um Mechaniken.

Illusionen sind kein Machtfaktor.
Sie sind der Anfang vom Ende.


🜆 Fazit – Das Ende der Illusionen

Israel befindet sich an einem historischen Punkt,
den es selbst nicht erkennt.

Das Fundament bröckelt.
Die Kontrolle zerrinnt.
Das Image ist moralisch irreparabel.
Die Welt sieht hin.
Und Generationen wechseln.
Die Zeit arbeitet nicht für Israel.

Das ist kein Aktivismus.
Kein Wunschdenken.
Kein „hoffen wir mal“.

Es ist nüchterne historische Beobachtung:

Projekte, die auf Unterdrückung basieren, haben keinen Bestand.
Nicht langfristig.
Nicht demografisch.
Nicht politisch.
Nicht moralisch.


🜇 Die fünfte Illusion

Es gibt noch eine fünfte Illusion – die brutalste und gleichzeitig irrsinnigste von allen:

Die Illusion, ein Volk auslöschen zu können.

In der Geschichte hat dieses Denken niemals funktioniert.
Nicht ein einziges Mal.

Warum das so ist –
warum indigene Völker nicht verschwinden
und warum die Nakba (arab. „Katastrophe“, Bezeichnung für die Vertreibung und Enteignung von ca. 750.000 Palästinenser:innen in den jahren 1947/1948)
und die Gegenwart untrennbar verbunden sind –
darüber sprechen wir im nächsten Artikel.


Gedankengang: Glauben Israels Führungsfiguren selbst an diese Illusionen?

Eine Frage, die sich immer wieder stellt:
Sind Netanyahu, Ben-Gvir & Co. wirklich Gefangene ihrer eigenen Illusionen –
oder halten sie das System nur aus Angst aufrecht?

Die Wahrheit ist komplexer.

Israels Führung regiert durch die Illusionen

Israels politische Elite lebt nicht in den Illusionen.
Sie regiert durch sie.
Aber gleichzeitig sind sie von ihnen gefangen.

Netanyahu weiß längst, dass das Projekt bröckelt:
dass die internationale Rückendeckung schwindet,
dass die Kontrolle instabil ist,
dass die moralische Immunität bricht.

Doch er kann die Wahrheit nicht aussprechen,
denn sie würde sein eigenes politisches Überleben zerstören.

Ben-Gvir und die Ideologen hingegen glauben tatsächlich an die Illusionen:
an Erwählung, an historische Mission, an „Ewigkeit“.

Aus Angst vor Kontrollverlust

Die einen wissen, die anderen glauben.
Doch beide handeln aus derselben Quelle: Angst.
Nicht Angst vor Palästinenser:innen –
sondern Angst vor dem Moment,
in dem die Illusionen zerbrechen
und sie mit sich selbst konfrontiert werden würden.

Denn der Preis des Kontrollverlusts
ist immer die Begegnung mit der eigenen Schuld.
Und genau davor flieht dieses System am heftigsten.

Tätermodus des späten Regimes

Das Muster sieht so aus:

  1. Erst glauben sie an die Illusionen.
  2. Dann merken sie, dass sie nicht funktionieren.
  3. Dann erhöhen sie die Gewalt, um die Illusionen künstlich zu stabilisieren.
  4. Dann rutscht das System in Panik.
  5. Dann kommt der Kontrollverlust.
  6. Dann kommt der Zusammenbruch.

Und Israel befindet sich aktuell zwischen Phase 3 und 4.

🪶 Lass uns weiterdenken.

Zwischen Genie & Wahnsinn ist ein freies Denklabor.
Hier darf gedacht, gefühlt, hinterfragt und neu zusammengesetzt werden.
Wenn Du etwas beitragen möchtest – eine Erfahrung, einen Gedanken, eine andere Sichtweise –
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Bildquelle: Titelbild (Risse in Glas): Ahmed für Unsplash+

Porträt von Jana Engel, Autorin und Seelenguide
Jana Engel

Jana Engel ist Seelenguide, Autorin und Freidenkerin.
In ihrem Denklabor erkundet sie die Mechanismen unserer Zeit -
zwischen Bewusstsein, Wahrheit und der Kunst des Zweifelns.

Artikel: 10

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